Deutsch

"Das Ende des Babylonischen Exils – Kulturgeschichtlich Epochenwende in der Literatur der letzen irakisch-judischen Autorn" – Heidy Margrit Muller, Anat Feinberg, Kamal Odischo Kolo.

Rachel und Ezechiel  (Roman)         / Almog Behar

(תרגם מעברית לגרמנית: דוד אייכנרנד)

[…]

Drei Jahre lang besuchte Cheskel den Unterricht des Weisen. Fünf Jahre nagten die Zweifel an ihm und plagte ihn der Schmerz über den Tod des Vaters. Fünf Jahre mied er die Synagoge und legte kein Buch in seine Schulmappe, bis er das 18. Altersjahr erreichte. Fünf Jahre lang schwieg er viel, schlich aus dem engen Haus der Mutter davon, streifte in Jerusalems Gassen herum und schlief auf offener Straße. Von Schulen oder Synagogen wollte er nichts wissen. So sehr er sich bemühte, er konnte sich auch nicht erinnern, ob er erst in jenen fünf Jahren vom Beruf des Frauenfriseurs zu träumen begann, oder ob sich dieser Traum bloß wiederholte, nachdem er dieser Vorstellung schon vor der Bar Mitzwah begegnet war. Er wusste nur, dass er davon geträumt hatte, nicht bei der Baufirma Solel Boneh zu arbeiten, wie alle anderen Männer seiner Familie. Er träumte von einem ganz anderen Beruf. Dann ereignete sich jener große Bruch, nämlich dass ihm auch seine Mutter starb. Kurz nach ihrem Tod besuchte ihn der Weise im Hause der Familie und hieß ihn, das Haus zu hüten und Schiwa zu sitzen, seine Mutter zu beweinen und sich von der Straße fernzuhalten. Vor langer Zeit, in jungen Jahren, als sein Bart noch verblichen sei, erzählte ihm der Rabbiner bei jener Gelegenheit, habe auch Cheskels Vater, Liyahu Naschauwi, gesegnet sei sein Andenken, zu seinen Schülern gehört. Liyahu sei ein sehr weiser Schüler gewesen, der sich dem Geistigen und der Weisheit seiner Lehrer hingegeben habe. Nachdem Cheskel die Schiva beendet und sich den 30-Tage-Bart rasiert hatte, bat er den Weisen, er möge ihn in der Tora unterweisen und ihm zu helfen, eine Frau für die Ehe zu finden, damit er nicht zum Militär müsse, denn was habe ihm das Militär gegeben und dieses Leben? Er wolle ein neues Leben beginnen, ein Leben der Besinnung und nicht des Krieges. Und in der ersten Lektion sprach der Weise zu Cheskel, im Angesicht der Zerstörung Jerusalems sollst du das Kleid einreißen und dann den Riss nähen, damit du nicht zerrissene Kleider trägst. Fragte sich Cheskel, welches Jerusalem der Weise wohl meine, die Straßen, in denen er, Cheskel, aufgewachsen sei? St. Martin und Bar Yochai bis zur Pat-Kreuzung? Erlebe er sie doch täglich in so jämmerlichem Zustand, dass der Faden bei ihm zu Hause nicht ausreichen würde, um all die Risse in seinen Kleidern zu nähen. Aber bei Fragen von Weisen müsse man vorsichtig sein und nicht gleich antworten. Dabei kamen ihm die Worte seines Vaters in den Sinn, der gesagt hatte, dass alles auch eine andere, verborgene Seite habe, und es fiel ihm ein, dass sein Vater ihn darauf aufmerksam machte, dass es seit der Offenbarung am Berg Sinai immer noch Tausende verborgene Regeln gibt, halachische Regeln, die nicht einmal der große Rabbi Akiva aus den Ausschmückungen, die Gott den Worten der Tora gegeben habe, habe herauslesen können. Wie könne dann er, der nichts gelernt habe, Fragen der Halacha beantworten? Nur, was soll man tun im Angesicht eines unglücklichen Menschen, dachte er sich.

[…]

Da beschloss Cheskel, vorsichtig zu sein mit dem Weisen, von sich aus nichts zu sagen, Gott zu vertrauen, sich zurückzuhalten und zu hören, was er, der Weise, zu sagen habe. Vielleicht hat er sich nicht beeindrucken lassen von ihren Worten, vielleicht hat er es schon gewusst oder vielleicht hat sie noch gar nicht mit ihm gesprochen. Hätte sie es getan, hätte er das bestimmt gespürt im Unterricht. Doch vielleicht spricht sie heute mit ihm, vielleicht an einem anderen Tag, und vielleicht gelingt es ihm noch, sie davon abzubringen. Jedenfalls achtete er den Weisen und seine Weisheit zutiefst. Seine Frau deutet vielleicht an, dass sie ihn verlassen will, und er muss daran denken, wie sehr er ein Kind haben wollte, da er aber allein kein Kind zur Welt bringen kann, hat er seinen Körper in ihren Körper gelegt. Eigentlich empfindet er ihr gegenüber doch Liebe. Er mag ihre Bewegungen in der Schwangerschaft. Auch die Übelkeit, die sie morgens befiel, mochte er, und die Unruhe, die sie in sein Leben gebracht hat. Vielleicht wird er nicht die Ruhe finden, die sein Vater fand. In einer Nacht vor einer oder zwei Wochen, erinnerte er sich, als er die Trennung ganz nahe glaubte, versuchte ihr zu erklären, dass in seiner Kindheit die Laken und Kissen mit Trauer getränkt gewesen seien, und bedeckte ihren Körper mit Onkelküssen.

Der Weise beendete seine Lektion und gab Cheskel ein Zeichen, er möge zu ihm kommen. Cheskel schien sich eilig entfernen zu wollen und hatte schon die Schwelle betreten, doch er konnte nicht so tun, als hätte er die Geste des Gelehrten nicht gesehen, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich zu ihm zu begeben. Der Weise Ovadia bedeutete ihm, sein Haupt zu senken, legte seine schwere Hand auf das Haar, das unter seiner Kippa hervorstand, und sagte mit sanfter Stimme im Flüsterton, Gott sei Dank, bin ich von dieser Last befreit. Der Gelehrte erklärte seine Worte so: Von nun an obliegen dir Lob und Fluch, Regeln und Lobpreisung, und wo Gottes Geist liegt zwischen Mann und Frau, will ich nicht sein. Fragte sich Cheskel, ob mit „Gott sei Dank, bin ich von dieser Last befreit“ gemeint sei, „Gott sei Dank, bin ich ihn los“.

Cheskel verließ die Synagoge schweren Schrittes und in Gedanken versunken. Was wollte ihm der Gelehrte zweimal sagen? Da kam ihm der Tod seines Vaters und dessen schwere Hand in den Sinn, und er dachte darüber nach, welchen Platz die Liebe in seinem ganzen Leben eingenommen hatte. Wie er sie erfuhr und wie er sie anderen angedeihen ließ. Dann sprach er zu sich selbst mit dem Akzent seines Vaters, Cheskel, Cheskel, wie steht es mit deinem Haussegen und mit deiner Frau? Wer hat Gegensätze geschaffen und sie zueinander geführt, wer führte Ähnliche zueinander und trennte sie? Er blickte auf die enge Gasse neben der Straße, wo er aufgewachsen war. Aus den Synagogen, die jene Gasse säumten, drangen keine Gesänge auf die Straße. Die Sonnenscheibe war schon untergegangen, und er hatte das Gefühl, als würde sie jeden Moment wieder aufgehen, als hätte er zwei ganze Tage wohlklingender Halachadeutungen gelauscht und von der Weisheit gekostet. Die Schwere in den Beinen schien verflogen. Leichten Fusses wandelte er durch die Straßen und munterte sich mit Gebeten, Lobesgesängen und Hoffnungen auf bessere Zeiten auf. Wusste es der Rabbiner oder wusste er es nicht? Er fügte Buchstaben zu Worten, bis sie hell leuchteten wie Straßenlaternen, und war tief bewegt. Er wähnte den Einbruch der Dämmerung und begann Morgengebete vor sich her zu sagen: Ich danke Dir, dass Du meine Seele in Deiner Barmherzigkeit zu neuem Leben erweckt hast, lobe den Herrn, meine Seele, Licht ist das Kleid, das du trägst, und ich will dich mir verloben in Treue. Gelobt sei Er, dass er mich zum Diener seines Schöpfers gemacht hast, gelobt sei Er, der mich nach seinem Willen erschaffen hat.

Vor dem Fest 

[…]

Sie saßen den Sabbat mit Schweigen aus, und obwohl an diesem Tag Freude herrschen soll im Haus, schlossen sie sich ein und verließen das Haus nicht einmal zum Abendgebet. Sie saßen im Wohnzimmer, trennten den Sabbat nicht vom Wochentag, und die Dunkelheit brach über sie herein. Cheskel saß mit geschlossenen Augen da, träumte von großen Taten und sah in seiner Vorstellung den Weisen Ovadia, wie er in der großen Synagoge von Bagdad, Salaat Al-Kebiri, vor versammelter Gemeinde stand, sein Haupt mit einem Turban bedeckt wie der Haupt seines Sohnes, und die große Menge, die begierig seinen Worten lauschte. Unter ihnen erblickte Cheskel auch seinen Vater, seine Mutter und seine Großmütter und Großväter. Der Weise sprach in Bagdad dieselben Worte, die Cheskel von ihm am Vortag in der Synagoge in Jerusalem gehört hatte, allein seine Sprache war gemischt, halb Arabisch und halb Hebräisch, und manchmal mischte er Arabisch und Hebräisch auch im selben Wort. Er sprach mit klarer Stimme vor einem Publikum von Zehntausenden. Das Publikum wuchs und wuchs, und die Synagoge war so voll, dass sie fast aus ihren Nähten platzte. Doch jedesmal, wenn die Synagoge aus ihren Fugen zu geraten schien, wuchs sie ein wenig, rückten die Mauern ein wenig auseinander und das Dach etwas näher zum Himmel, bis die Synagoge so groß war wie der Heilige Tempel in Cheskels Vorstellung. Nachdem er das ganze Geschehen von oben betrachtet hatte, fand er sich nun selbst in der Menge wieder. Er stand weit weg von seinen Eltern, so weit, dass er sie nicht sehen konnte, davon dass er sie berühren konnte, ganz zu schweigen, und er versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, um zu ihnen zu gelangen. Auf dem Weg dorthin hörte er die Stimme des Weisen klar und deutlich, wieder die Geschichte mit dem Araber und der goldenen Schüssel und die Geschichte mit dem Alten und den Feigen. Als Cheskel bei seinen Eltern ankam, war er auf die Höhe eines Säuglings zusammengeschrumpft und reichte ihnen nur noch bis ans Knie. Er sah sie dastehen und dem Weisen Abdallah zuhören, nicht getrennt nach Männern und Frauen. Sie standen beieinander und tauschten freundschaftliche Blicke aus. Auch ihre Eltern, die hinter ihnen standen, schauten sie an. Liyahu wandte sich Cheskel zu. Cheskel, Cheskel sagt er und fügte einige Worte auf Arabisch hinzu, die sich mit seinem Namen reimten. Cheskel starrt ihn verständnislos an. Auch Amal spricht ihn an, und auch sie nennt ihn zuerst beim Namen und fügt Worte hinzu, die wie Worte der Zuneigung klingen, auf Arabisch. Er starrt auch sie verständnislos an und sagt zu ihr, du bist Tikva, nicht Amal, und sie versteht ihn nicht. Beide sagen sie ihm auf Arabisch: Aschlonaq, aschlonaq, Cheskel, nassit, nassit lissanaq. Du hast deine Sprache vergessen, Vergessen über uns gebracht. Wie können wir unsere Sprache retten? Wie kam es nur, dass unser Sohn an die Ismaeliten verkauft wurde und uns nicht mehr versteht? Cheskel zupft am Kleid seiner Mutter und am Hemd seines Vaters, sinkt zu Boden und bedeckt sich die Ohren. Er kann die Worte des Weisen nicht mehr hören. Stundenlang hat er ihm schon zugehört. Er wiederholt sich ständig. Wieder dieses Märchen, wieder diese Geschichte. Der Weise ruft, und Cheskel ruft zurück, und obwohl sein Körper auf die Größe eines Kindes geschrumpft war, schwillt seine Stimme an und füllt den Tempel. Er ruft dem Weisen Ovadia etwas zu, er schreit ihn an, er schreit, Abdallah, Abdallah, und er schreit, Mutter, Amal, Tikva, und er schreit, Vater, Elijahu, Liahu, Tschachle, Tschachle, und wacht auf. Tschachle steht vor ihm, in ihrer ganzen Länge seinem Kinderkörper gegenüber, ihr Bauch gegenüber seinem Kinderbauch und ihre tränenerfüllten Augen vor seinen Kinderaugen.

Cheskel wacht auf und sagt ihr, ich habe geschrien im Traum, ich sah den Weisen bei seiner großen Predigt am großen Sabbat in der großen Synagoge im großen Bagdad, und das ganze Volk lauschte seinen Worten, nur ich forderte ihn auf, aufzuhören. Ich weiß nicht, ob es mir gelang, ihn dazu zu bewegen, seine lange Predigt abzubrechen, die mich so sehr in ihren Bann gezogen hatte, dass ich fürchtete, darin zu versinken. So liegen sie beieinander, er und seine Ängste, er und ihr Bauch, das Bett und ihr ganzes Gewicht.

[…]

Die Ungeborene

Eine Ungeborene schwebte im Bauch von Tschachle. Ihr Mund und ihr Bauch hingen noch an der Mutter, aber ihr Herz schlug schon von selbst, und ihre Augen sahen durch den durchsichtigen schwangeren Bauch hindurch. Als die Ungeborene mit Tschachle auf der Straße ging, erkannte sie die Ungeborenen in den Bäuchen aller anderen Frauen, verschränkte Zwillinge bei der einen, ein Junge und ein Mädchen, die sich fast nicht bewegen konnten, so knapp war der Platz im Bauch, ein Ungeborenes bei dieser, das erst einen Monat alt war und sich noch nicht entschieden hatte, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, bei jener eine Ungeborene, die sich schön vorkam, bei einer anderen ein Ungeborenes, dessen Äußeres eher an ein wildes Tier erinnerte als an einen Menschen, und bei wieder einer anderen Eierstöcke, die noch vom Samen träumen, der sie zum Ungeborenen macht. Die aneinander vorbeiziehenden Embryos geben hohe Töne von sich wie Meerestiere, aus den Bäuchen rufen sie einander zu, tauschen Gesten der Freude aus und rufen sich Zeiten in Erinnerung, als sie noch aus zwei Teilen bestanden, die zusammenfanden und wuchsen.

Wir sehen die schlafende Ungeborene Tschachle und die schlafende Ungeborene in ihrem Bauch. Beide träumen. Tschachle sieht in ihrem Traum offene Bäuche, aus denen Säuglinge ohne Nabelschnur in die große weite Welt heraustreten und viele Sprachen sprechen, die niemand kennt und nur ein entferntes Echo auslösen. Im Traum der Ungeborenen streifen die Mütter ihre Bäuche ab und bürden sie ihren Männern auf, schneiden Grimassen und tauschen miteinander Gedanken aus, auch sie in unbekannten Sprachen, aber ohne Widerhall, während die Männer mit Schrecken erste Wehen und den sich öffnenden Körper bemerken und kalter Schweiß sie bedeckt. Sie irren stummen aufeinander zu, ihre Gesichter vom Schrecken gezeichnet. Ihre Augen wandern umher auf der Suche nach den Frauen, um ihnen ihre Bäuche zurückzugeben, und wer auf eine Frau stößt, gleichgültig auf welche, versucht, den Bauch abzustreifen und ihn ihr anzubinden. Doch sie werden die Bäuche nicht mehr los. Die Männer suchen in Gedanken verzweifelt ein Loch in ihrem Körper, durch das sie entweichen können. Sollen doch die Säuglinge dort bleiben.

Die Ungeborene sieht auch ihren Vater Cheskel schreiend herumirren und mit Tschachles Bauch am Körper, und sie darin, manche Straßen entlanggehen. Er versucht, den Bauch von sich zu reißen und ihn einer der anderen Frauen anzudrücken, denen er auf der Straße begegnet. Doch sie lehnen alle ab, bis er dem Weisen Ovadia und der Weisen Masal begegnet, die am Eingang ihres Hauses stehen, und er weiß nicht, welchem Bauch er seinen Bauch noch hinzufügen soll. Beide sagen, komm Cheskel, gib uns deinen Bauch und ruh dich aus, genug mit dem Schwitzen, genug mit der Angst. Gib uns den Bauch und den Säugling und nimm die Freiheit wieder. Darauf ruft die Ungeborene Cheskel zu, es genügt dir nicht, meine Mutter mit deinem Schweigen und deinem Wandeln zu plagen, du willst mich auch noch Fremden, wenn auch Weisen, übergeben und gehen. Willst du dich nicht auch darauf vorbereiten, mein Vater zu sein?

So träumen sie, die eine in der anderen, die Ungeborene und Tschachle, sprechen mit ihren Träumen und vergessen sie wieder. Als die Ungeborene aus ihrem Traum erwachte, sah sie noch das Ende von Tschachles Traum – wie zahllose Säuglinge aus den Mütterleibern heraustraten und ihre Sprache, wie sie sich Tschachle vorstellte, gar nicht ihre wirkliche Sprache war. Da versuchte die Ungeborene den Säuglingen im Traum ihrer Mutter eigene Worte in den Mund zu legen und ihr sanfte Worte zuzuflüstern. Ich sah Vater in meinen Träumen. Er möchte schon mein Vater sein und dein Mann und ist nicht der Zauderer, den du dir immer vorstellst. So laut sprach die Ungeborene, dass es ihr fast gelang, ihren Vater und ihre Mutter zu wecken.

[…]

"Ruh Jedida": Ein neuer Geist für 2011

Ein Brief von in Israel lebenden jungen jüdischen Menschen mit Abstammung aus der arabischen und islamischen Welt, an unsere Generation im Nahen Osten und Nordafrika

Wir, Nachkommen der jüdischen Gemeinden in der arabischen und muslimischen Welt, des Nahen Osten und des Maghreb, und zweite und dritte Generation von Mizrachi Juden in Israel, sehen mit Begeisterung und Neugier welch große und mutige Rolle die Männer und Frauen unserer Generation in den Demonstrationen für Freiheit und Wandel in der arabischen Welt spielen. Wir identifizieren uns mit Euch, und sind voller Hoffnung für die erfolgreichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten; gleichzeitig sehen wir mit großem Schmerz und Sorge die vielen Todesfälle in Libyen, Bahrain, Jemen, Syrien und vielen anderen Orten der Region.

Die Proteste der Menschen unserer Generation gegen Unterdrückung, Gewalt und Missbrauch durch die Regime, sowie die Rufe nach Veränderung, Freiheit und Errichtung demokratischer Regierungen, die die Beteiligung von Bürgern in politischen Prozessen fördern, markieren einen dramatischen Zeitpunkt in der Geschichte des Nahen Osten und Nordafrika, einer Region, die über Generationen von unterschiedlichen Mächten – inneren und äußeren – aufgerieben wurde, und deren Machthaber oftmals die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte ihrer Einwohner mit Füßen getreten haben.

Wir sind Israelis, Kinder und Enkel von Juden, die hunderte oder gar tausende von Jahren im Nahen Osten und in Nordafrika lebten. Unsere Mütter und Väter haben zu der Entwicklung der Kultur dieser Region beigetragen, und waren ein Teil davon. Folglich sind die Kultur der islamischen Welt, sowie die Verbindung und Identifizierung mit dieser Region über mehrere Generationen hin, ein untrennbarer Teil unserer Identität. Wir sind ein Teil der religiösen, kulturellen und sprachlichen Geschichte des Nahen Osten und Nordafrika, obwohl wir anscheinend die "vergessenen" Kinder dieser Geschichte sind: Zuerst in Israel, das sich und seine Kultur irgendwo zwischen Europa und Nordamerika sieht. Dann in der arabischen Welt, wo oftmals die Gegensätzlichkeit von Juden und Arabern hingenommen wird, wie auch die Vorstellung, dass alle Juden Europäer seien, und die es vorgezogen hat, die Geschichte von arabischen Juden als ein unwesentliches oder sogar nicht vorhandenes Kapitel ihrer eigenen Geschichte zu verdrängen. Und schließlich – wie wir zugeben müssen – in unseren eigenen Mizrachi Gemeinden, die sich in Folge westlicher Kolonisation, jüdischem Nationalismus und arabischen Nationalismus oftmals ihrer arabischen Abstammung schämten, so dass sich viele von uns an die Strömungen der Mehrheitsgesellschaft anpassten, und dabei unsere Vergangenheit herunterspielten oder leugneten. In vergangenen Generationen wurde versucht, die gegenseitige Beeinflussung und die Beziehungen zwischen den jüdischen und arabischen Kulturen gewaltsam auszulöschen, aber in vielen Lebensbereichen findet man immer noch Spuren davon, einschließlich Musik, Gebeten, Sprache und Literatur.

Wir möchten unsere Identifizierung und Hoffnung für den Generationenwechsel in der Geschichte des Nahen Osten und Nordafrika ausdrücken, und dafür, dass dieser Wechsel die Tore für Freiheit und Gerechtigkeit und gerechte Ressourcenverteilung in der Region öffnen wird. Wir wenden uns an Euch, Brüder und Schwestern unserer Generation in der arabischen und islamischen Welt, mit dem Wunsch nach einem ehrlichen Dialog, durch den wir auch einen Teil der Geschichte und der Kultur der Region werden können.

Mit Bewunderung sahen wir die Bilder aus Tunesien und vom Al-Tahrir Platz, und bewunderten wie Ihr es schafftet, einen gewaltlosen Widerstand zu organisieren, der hunderttausende von Menschen auf die Straßen und Plätze brachte, und schließlich Eure Machthaber zum Rücktritt gezwungen hat. Auch wir leben unter einem Regime, das – trotz seiner Behauptungen, aufgeklärt und demokratisch zu sein – in Wirklichkeit weite Teile seiner Bevölkerung nicht repräsentiert, sowohl innerhalb der "Grünen Linie" als auch in den besetzten Gebieten. Dieses Regime tritt die wirtschaftlichen und sozialen Rechte eines Großteils seiner Bevölkerung mit Füßen, es betreibt einen permanenten Prozess der Beschneidung demokratischer Rechte, und errichtet rassistische Barrieren gegen die nah-östliche und nordafrikanische-jüdische und arabische Kultur. Anders als die Bürger von Tunesien und Ägypten, sind wir noch weit davon entfernt, Solidarität zwischen verschieden Gruppen in diesem Land herzustellen um eine Bewegung zu gründen, die uns erlauben würde, uns zusammenzuschließen und gemeinsam – alle die hier leben – zu den öffentlichen Plätzen zu marschieren, und ein ziviles Regime zu fordern, das kulturell, sozial und wirtschaftlich gerecht ist.

Wir Mizrachi Juden in Israel, begründen unseren Kampf um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte mit der Ansicht, dass politischer Wandel nicht von den westlichen Mächten abhängen kann, die unsere Region und ihre Bewohner über viele Generationen hinweg ausgebeutet haben. Ein wahrer Wandel kann nur aus einem inner-regionalen und inter-religiösen Dialog entstehen, der mit den verschiedenen Kämpfen und Bewegungen verknüpft ist, die sich derzeit in der arabischen Welt abspielen. Insbesondere müssen wir den Dialog mit den palästinensischen Bürgern Israels führen, die um gleiche politische und wirtschaftliche Rechte sowie um die Abschaffung rassistischer Gesetze kämpfen, und uns mit ihnen solidarisch erklären, wie auch mit den Forderungen des palästinensischen Volkes unter israelischer Militärbesatzung in der West Bank und in Gaza, die Besatzung zu beenden und nationale Unabhängigkeit zu erlangen.

In unserem letzten Brief, im Anschluss an Obamas Rede 2009 in Kairo, haben wir zur Entstehung einer demokratischen nah-östlichen Identität aufgerufen, und unsere Einbeziehung in eine solche Identität propagiert. Wir äußern jetzt die Hoffnung, dass unsere Generation – in der gesamten arabischen, islamischen und jüdischen Welt – die Brücken aufbauen wird, die die Mauern und Feindseligkeiten vorheriger Generationen überwinden, und den tiefgehenden, menschlichen Dialog erneuern können, ohne den wir einander nicht verstehen können: den Dialog zwischen Juden, Sunniten, Schiiten und Christen, zwischen Kurden, Berbern, Türken und Persern, zwischen Mizrachi und Ashkenazys, und zwischen Palästinensern und Israelis. Wir ziehen Kraft aus unserer gemeinsamen Vergangenheit, um hoffnungsvoll in eine gemeinsame Zukunft zu blicken. Wir vertrauen auf einen inner-regionalen Dialog – dessen Zweck es ist, zu reparieren und rehabilitieren, was in vorherigen Generationen zerstört wurde – als Katalysator für das Andalusische Modell muslimisch-jüdisch-christlicher Partnerschaft zu erneuern, so Gott will, Insha'allah, und als Weg in eine kulturelle und historische goldene Ära für unsere Länder. Diese goldene Ära kann nicht entstehen ohne gleiche, demokratische Bürgerrechte, gerechte Verteilung von Ressourcen und Bildung, Chancengleichheit, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, und die Akzeptierung aller Menschen, ohne Rücksicht auf ihren Glauben, Nationalität, Status, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder ethnische Zugehörigkeit. All diese Rechte haben gleiches Gewicht beim Aufbau der neuen Gesellschaft nach der wir streben. Wir verpflichten uns, diese Ziele im Rahmen eines Dialogs zwischen allen Völkern des Nahen Osten und Nordafrika anzustreben, und durch einen Dialog, den wir mit verschiedenen jüdischen Gemeinden in Israel und auf der Welt führen werden.

Wir, die Unterzeichnenden:

Shva Salhoov (Libyen), Naama Gershy (Serbien, Jemen), Yael Ben-Yefet (Irak, Aden), Leah Aini (Griechenland, Türkei), Yael Berda (Tunesien), Aharon Shem-Tov (Irak, Iranisch-Kurdistan), Yosi Ohana (geboren in Marokko), Yali Hashash (Libyen, Jemen), Yonit Naaman (Jemen, Türkei), Orly Noy (geboren in Iran), Gadi Alghazi (Jugoslawien, Ägypten), Mati Shemoelof (Iran, Irak, Syrien), Eliana Almog (Jemen, Deutschland), Yuval Evri ((Irak), Ophir Tubul (Marokko, Algerien), Moti Gigi (Marokko), Shlomit Lir (Iran), Ezra Nawi (Irak), Hedva Eyal (Iran), Eyal Ben-Moshe (Jemen), Shlomit Binyamin (Kuba, Syrien, Türkei), Yael Israel (Türkei, Iran), Benny Nuriely (Tunesien), Ariel Galili (Iran), Natalie Ohana Evry (Marokko, Großbritannien), Itamar Toby Taharlev (Marokko, Jerusalem, Ägypten), Ofer Namimi (Irak, Marokko), Amir Banbaji (Syrien), Naftali Shem-Tov (Irak, Iranisch-Kurdistan), Mois Benarroch (geboren in Marokko), Yosi David (Tunesien, Iran), Shalom Zarbib (Algerien), Yardena Hamo (Irakisch-Kurdistan), Aviv Deri (Marokko) Menny Aka (Irak), Tom Fogel (Jemen, Polen), Eran Efrati (Irak), Dan Weksler Daniel (Syrien, Polen, Ukraine), Yael Gidnian (Iran), Elyakim Nitzani (Libanon, Iran, Italien), Shelly Horesh-Segel (Marokko), Yoni Mizrahi (Kurdistan), Betty Benbenishti (Türkei), Chen Misgav (Irak, Polen), Moshe Balmas (Marokko), Tom Cohen (Irak, Polen, England), Ofir Itah (Marokko), Shirley Karavani (Tunesien, Libyen, Jemen), Lorena Atrakzy (Argentinien, Irak), Asaf Abutbul (Polen, Russland, Marokko), Avi Yehudai (Iran), Diana Ahdut (Iran, Jerusalem), Maya Peretz (Nikaragua, Marokko), Yariv Moher (Marokko, Deutschland), Tami Katzbian (Iran), Oshra Lerer (Irak, Marokko), Nitzan Manjam (Jemen, Deutschland, Finnland), Rivka Gilad (Iran, Irak, Indien), Oshrat Rotem (Marokko), Naava Mashiah (Irak), Zamira Ron David (Irak),Munir Nir Akirav (Irak, Bahrein) Omer Avital (Marokko, Jemen), Vered Madar (Jemen), Ziva Atar (Marokko), Yossi Alfi (geboren in Irak), Amira Hess (geboren in Irak), Navit Barel (Libyen), Almog Behar (Irak, Türkei, Deutschland).

  Ruh Jedida.  Ein neuer Geist für 2011

Zurück zu den arabischen Wurzeln

Für etliche Israelis gehört arabische Musik immer noch zur Kultur des Feindes. Trotzdem wird sie im Land populärer – und oft hebräisch betextet. Sogar der Armeesender spielt die Stücke.

18.08.2015, von HANS-CHRISTIAN RÖSSLE, JERUSALEM

Frankfurter Allgemeine Zeitung / 13.8.2015

Die schwüle Nacht am Nil geht ihrem Ende entgegen. „Wir haben genug über die Liebe gesprochen“, singt eine Frauenstimme ungeduldig. Klagend setzt eine Geige ein, dann das Cello. Die melancholische Arie dauert fast eine halbe Stunde. Bis zum Schluss bleibt offen, ob Umm Kulthum und ihr Liebhaber noch zueinanderfinden, bevor über Kairo die Sonne aufgeht. Wenn Umm Kulthum sang, strömten in der arabischen Welt die Menschen vor die Radio- und Fernsehgeräte. Als die ägyptische Diva vor vierzig Jahren starb, gaben ihr Hunderttausende das letzte Geleit. Arabischer kann die Musik kaum sein, die die jungen Musiker auf der Kellerbühne spielen – und das mitten in Jerusalem zu einem hebräischen Text.

Mit ihrer Komposition kehren Inbal Djamchid und ihr Freund, der Gitarrist Gilad Vaknin, zu ihren eigenen Wurzeln zurück: Die Familie der Sängerin stammt aus Iran und aus Marokko. Aus dem nordafrikanischen Land wanderten auch die Großeltern Vaknins in Israel ein. Sie sind „Mizrachim“: So werden die Juden genannt, die aus arabischen und muslimischen Ländern stammen. Doch in Israel gaben die aschkenasischen Juden aus Europa und Amerika jahrzehntelang politisch wie musikalisch den Ton an. „Arabische Musik gehört für viele Israelis immer noch zur Kultur des Feindes. Trotzdem wird sie in Israel populärer. Kein Wunder, denn mehr als die Hälfte ist nichteuropäischer Herkunft“, sagt die junge Sängerin.

Israel kommt musikalisch im Nahen Osten an

Die dritte Mizrachi-Generation besinnt sich auf ihr Erbe und findet musikalisch im ganzen Land immer mehr Anklang. Aus den Lautsprechern der Taxis und Bars tönen überall orientalisch klingende Lieder. Oft merkt man erst nach einer Weile, dass die Worte nicht arabisch, sondern hebräisch sind. Selbst der Armeesender spielt längst ihre Stücke, zu denen aschkenasische Juden auf ihren Hochzeiten begeistert tanzen. Fast siebzig Jahre nach seiner Gründung kommt Israel musikalisch im Nahen Osten an. Mehr als 800.000 Juden aus arabischen Staaten und Iran ließen sich bis 1978 in Israel nieder. Sie fühlten sich nicht willkommen. Bis heute wurde keiner dieser Israelis Regierungschef.

Dafür füllen ihre Sänger die größten Säle. Musik ist für viele Enkel der mizrachischen Einwanderer die einzige Brücke zur Vergangenheit ihrer Familie. Sie sprechen nur Hebräisch. Arabisch und Farsi sind Fremdsprachen für sie. „Als ich siebzehn Jahre alt war, wurde meine Großmutter dement. Sie vergaß ihren hebräischen Wortschatz und redete bis zu ihrem Tod nur noch Arabisch. Ich konnte sie nicht mehr verstehen“, sagt Almog Behar. Die Familie seiner Mutter floh Anfang der fünfziger Jahre aus Bagdad. Damals waren ein Viertel der Einwohner der irakischen Hauptstadt jüdisch. In Israel kam die Familie des jungen Schriftstellers in ein Auffanglager an der Küste. Als seine Mutter zehn Jahre alt war, kam ihr Lehrer vorbei: Er verbot den Eltern, mit ihrer Tochter Arabisch zu sprechen. Almog Behar hatte später immer wieder mit der Polizei zu tun. Wegen seines Aussehens hielten ihn die Polizisten für einen Palästinenser und kontrollierten ihn, obwohl er kein Wort Arabisch konnte.

Als Student begann Almog Behar, die Sprache seiner Vorfahren zu lernen. „Ich wollte wissen, was wir alles verloren haben“, sagt der 37 Jahre alte Dichter. Auf einmal waren ihm seine Nachbarn ganz nahe. Die Sprache öffnete ihm Türen im arabischen Osten Jerusalems, in den Palästinensergebieten und im Nachbarland Ägypten. Kairo und die Sängerin Umm Kulthum faszinieren ihn besonders. Almog Behar schrieb auf Hebräisch das Gedicht, das Inbal Djamchid vertonte. Demnächst erscheint in Kairo auf Arabisch eine Übersetzung seines ersten Romans. „Die Verbindungen zur arabischen Welt sind Teil unserer Identität. Aber solange Araber für die Israelis Feinde bleiben, werden wir Mizrachis das auch zu spüren bekommen“, befürchtet der israelische Dichter. Dieser Rassismus werde wohl erst zu Ende sein, wenn der Konflikt mit den Palästinensern beigelegt ist. Trotzdem setzt er sich schon heute dafür ein, dass alle israelischen Schüler Arabisch lernen.

Almog Behar ist weiter vorangekommen als die meisten Nachkommen der Einwanderer aus dem Osten. Nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit forscht er am Jerusalemer Van-Leer-Institut. Die Neuankömmlinge aus Bagdad standen Anfang der fünfziger Jahre vor den Trümmern ihrer Existenz. Im Irak gehörten sie der Mittel- und der Oberschicht an, besaßen Häuser. Sie waren beruflich, geschäftlich und musikalisch erfolgreich. Das irakische Rundfunkorchester bestand in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen nur aus jüdischen Instrumentalisten. In Bagdad traten die jüdischen Kuwaiti-Brüder am Königshof auf. Sie gelten als die Begründer der modernen irakischen Musik. In Israel mussten sie später bei Hochzeiten aufspielen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Ablehnung und Vorurteile schlugen nicht nur den irakischen Juden entgegen, als sie zunächst jahrelang in Zeltlagern einquartiert wurden. „Vor uns stehen Menschen mit rekordverdächtiger Primitivität. Ihr Bildungsstand kommt absoluter Unwissenheit gleich. Dazu geht ihnen jeder Sinn für das Spirituelle ab“, schrieb die Zeitung „Haaretz“ 1949, ein Jahr nach der Staatsgründung. Juden aus Tunesien und Libyen seien „besser“ als Algerier und Marokkaner. „Maghrebinische Juden sind die Schlimmsten.“

Reuven Abergel hat selbst erlebt, was das bedeutet. Er war fünf Jahre alt, als sich seine Familie 1947 auf den Weg aus der marokkanischen Hauptstadt Rabat nach Palästina machte. Die „Jewish Agency“ kümmerte sich um sie. Es begann eine jahrelange Odyssee durch Lager in Algerien, Frankreich und Israel. „Die Zionisten haben meinen Eltern nicht nur ihre beiden ältesten Söhne genommen, sondern auch ihre Selbstachtung und ihren Lebenswillen. Sie haben unsere Familien zerstört“, sagt der 73 Jahre alte Israeli bitter. In Marokko seien sie eine geachtete Familie gewesen, die vom König empfangen wurde. In Israel habe man sie zu Flüchtlingen gemacht, die um alles bitten mussten.

„Wie die Schwarzen in Amerika“

Als sie im gelobten Lager ankamen, wartete dort nur ein ausrangiertes amerikanisches Armeezelt auf sie. In Jerusalem wohnte die neunköpfige Familie später in einem alten Gebäude im Niemandsland zwischen dem arabischen und dem jüdischen Teil der Stadt. „Die guten Immobilien hatten die aschkenasischen Israelis unter sich aufgeteilt. Für uns gab es bis 1967 nicht einmal Wasser und Strom. 160 Leute lebten in einem Haus“, sagt Reuven Abergel. Statt in die Schule zu gehen, fing er an, zu stehlen und Rauschgift zu verkaufen. Der neue Staat interessierte sich nicht für die marokkanischen Einwanderer. Das änderte sich erst nach dem Sechs-Tage-Krieg, als Israel ganz Jerusalem unter seine Kontrolle brachte. Auf einmal waren die heruntergekommenen Häuser in der Stadtmitte gefragt. Ihre mizrachischen Bewohner sollten in Plattenbausiedlungen am Stadtrand ziehen.

Die Wut wuchs. „Wir Mizrachis fühlten uns damals wie die Schwarzen in Amerika“, erinnert sich Reuven Abergel. Als die Polizei 1971 bei einer Razzia im Stadtteil Musrara Dutzende Jugendliche festnahm, hatten er und seine Freunde genug: Sie zogen vor das Büro von Bürgermeister Teddy Kollek und dann weiter vor das Gefängnis. Ihr Protest hatte Erfolg: Die Häftlinge kamen frei, und die israelischen „Schwarzen Panther“ waren geboren. Danach schrieb Reuven Abergel den ersten Brief seines Lebens. Darin forderte er Ministerpräsidentin Golda Meir zu einem Treffen auf. Nach einem neun Tage dauernden Hungerstreik an der Klagemauer war die Regierungschefin schließlich bereit, mit einer Delegation der Panther zu sprechen. Das seien „keine netten Leute“, sagte Golda Meir später.

Die wütenden Mizrachis aus Musrara ließen sich nicht einschüchtern. Sie demonstrierten weiter gegen Diskriminierung und prügelten sich mit der Polizei. „Wir wollten endlich unseren Anteil. Doch wir mussten lernen, dass wir nicht mit Freunden, sondern mit Feinden zusammenleben“, sagt Reuven Abergel. Die Regierung setzte eine Kommission ein und gab am Ende zu, dass die Vorwürfe der Panther berechtigt waren. Die Sozialausgaben wurden erhöht. Doch 1973 brach der Jom-Kippur-Krieg aus, und alles drehte sich wieder nur um Israels Sicherheit. Immerhin hätten die Wähler Golda Meirs Arbeiterpartei wenig später von der Macht verdrängt, sagt Reuven Abergel. Die Parteien hätten endlich auch mizrachische Kandidaten aufgestellt. „Aber bis heute leiden wir unter derselben Unterdrückung wie die Palästinenser“, sagt Reuven Abergel.

Ein Religionsgelehrter sollte putzen gehen

David Menachem war noch nicht geboren, als die „Schwarzen Panther“ durch die Straßen von Jerusalem zogen. Aber auch für den 33 Jahre alten Rabbiner ist ihr Kampf noch nicht vorüber. Er hat seinen eigenen Weg gefunden, um Brücken über den tiefen Graben zu schlagen, der die Israelis immer noch trennt. David Menachem stimmt seine arabische Laute und singt, wie es seine Vorfahren seit Jahrhunderten taten: Er gehört einer alten Bagdader Rabbiner- und Kantorendynastie an. Der Israeli singt Pijutim, traditionelle liturgische Dichtungen, die er selbst schreibt wie seine weltlichen Gedichte. Eines erzählt von seinem Großvater, der nach der Landung in Israel den Boden küsste. Darüber amüsierten sich die anderen Israelis. „Für meinen Großvater war es der Schock seines Lebens, als er in Israel ankam“, sagt sein Enkel: Der angesehene Rabbiner aus Bagdad wurde in einem Jerusalemer Wohnblock einquartiert. Erst war der Religionsgelehrte mit dem wallenden Bart arbeitslos, dann bot man ihm eine Putzstelle an.

Jahre später bekam sein Enkel selbst zu spüren, wie groß die aschkenasische Arroganz selbst unter strenggläubigen Juden geblieben ist. „Sie machten sich über unsere Traditionen lustig oder hatten keine Ahnung davon“, sagt er über die zwei Religionsseminare, die er selbst besuchte. In der Schule seiner Schwestern reichte die Trennung noch weiter. Dort gab es getrennte Klassen für sefardische (so werden mizrachische Juden auch genannt) und aschkenasische Mädchen. Juden wie ihm habe man vorgeworfen, sie nähmen ihre Religion nicht ernst genug, und ihre Musik sei viel zu fröhlich.

„Ich bringe meine eigene Musik mit, egal ob ich in einer Synagoge spiele oder im Konzertsaal“, sagt David Menachem, der mit muslimischen Sufis genauso auftritt wie mit säkularen Künstlern, bis hin zum Tölzer Knabenchor. Er singt Lieder von Musiklegenden wie dem israelischen Sänger Arik Einstein und der Ägypterin Umm Kulthum. Musik ist für ihn eine Art Friedensdialog – zwischen Juden und Muslimen und unter den Israelis. Wenn er vor israelischem Publikum auftritt, verleugnet er nie seine mizrachische Herkunft. Mindestens ein arabisches Stück hat er immer im Programm. „Es reicht nicht, dass friedensbewegte Israelis einen Staat für die Palästinenser fordern, sie müssen auch die arabische Kultur anerkennen“, sagt David Menachem. Dann fängt er an, auf seiner arabischen Rohrflöte zu improvisieren.

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